Unsere Julia
Hoi zema! Ich bin Julia!
Julia wurde am 9. März 2014 geboren. Pausbäckig und mit wachem Blick hat sie uns vertrauensvoll in die Augen geschaut. «Gesundes Mädchen» steht in ihrem Vorsorgeheft. Daran haben wir ganz fest geglaubt. Auch als Julia erst mit 17 Monaten laufen gelernt hatte, trübte dies nicht unsere Zuversicht – manche Kinder brauchen einfach ein bisschen länger. Den späten Spracherwerb schoben wir auf die Ohrenprobleme. Als diese gelöst waren, lernte Julia sich bestens auszudrücken.
Julia ist und war schon immer sehr menschenliebend. Ein wohlwollendes Lächeln, eine Kinderhand, die sich ihr entgegenstreckt, und ein «Spiel mit uns» sind für sie das Höchste. Gemeinsam etwas zu unternehmen, ist für Julia immer wichtiger als das Was.
Bis etwa dreijährig hat Julia gerne mit ihren Spielsachen gespielt, Kaffee für die Puppen gekocht, gemalt, gepuzzelt wie ein Weltmeister. Nach und nach interessierte sie das nicht mehr und wir suchten verzweifelt nach neuen, für sie interessanten Spielsachen. Aber Julia wollte lieber auf die Spielplätze und andere Kinder treffen, lieber mit dem Trottinett ein Stück spazieren gehen, lieber herumrennen und -tollen. Gleichzeitig warteten wir darauf, dass Julia weitere Meilensteine der Entwicklung erreichen würde, die Windeln endlich loswürde, Fortschritte machte in ihrer Spielentwicklung und Kommunikation.
Als dies nicht geschah, erklärten wir und unser Umfeld uns dies mit der Geburt ihrer Schwester. Dennoch blieben Fragezeichen, rührten sich Ängste in uns, dass Julia vielleicht doch grössere Schwierigkeiten hat als angenommen. Abklärungen ergaben jedoch stets negative Resultate: ADHS und Autismus wurden ausgeschlossen und schliesslich wurden genetische Untersuchungen empfohlen. Was diese zu Tage brachten, überstieg in grösstem Masse unsere Vorstellungskraft. Jenseits. Wir wussten nicht einmal von der Existenz einer solch brutalen Krankheit, welche sehr vereinfacht mit «Kinder-Alzheimer» beschrieben wird. Die Symptome ähneln stark der Kinder-Demenz.
Es war der 5. Dezember 2019.
Der schwärzeste und traurigste Tag unseres Lebens.
Von da an hat sich viel in unserem Leben verändert. Wir kannten nun unseren Feind und haben begonnen, gegen diese Krankheit und für Julia zu kämpfen. Julia spricht heute nur noch einzelne Wörter, mit Glück kurze Satzfragmente. An die unendlichen Redeschwälle eines sehr mitteilungsfreudigen Kindes erinnern wir uns mit Wehmut. Ihre Zunge löst sich beim Singen und Kinderlieder, die sie seit den ersten Lebensmonaten gehört und später immer gerne gesungen hat, kommen ihr manchmal ganz spontan von den Lippen. Vor allem ihr Schlaflied «Ninna nanna mamma, tieni mi con te» kann sie fast fehlerfrei singen. Bei anderen Liedern erinnert sie sich an einzelne Zeilen oder Wörter. Aus ihrer Zeit in der Kinderkrippe in Chur hat sie viele Lieblingslieder mitgenommen, welche wir ihr immer wieder vorsingen und dann in leuchtende Augen schauen dürfen. Jedes Wort von Julia nehmen wir so dankbar auf. Wir wissen nicht, wann sie das letzte Mal Mama, Papa oder Giada sagen wird. Oder werden wir siegen? Über die Krankheit siegen! Wir wünschen es uns so sehr.
Julia ist ein sehr aktives Mädchen. Sie springt herum, hüpft auf ihrem Trampolin, rennt gerne beim Spazieren über Wiesen und Felder, liebt die grenzenlose Weite, wo weder Autos fahren, noch sonstige Gefahren lauern. Diese Gefahren kann sie nämlich nicht einschätzen, kennt sie nicht, ignoriert sie und bringt dabei Mama und Papa ins Schwitzen. Julia kann extrem schnell sein. Je mehr du sie halten willst, umso mehr möchte sie von dir weglaufen, Freiheit spüren, selbst bestimmen, ihrem Instinkt und ihren Impulsen folgend. Diese zu kontrollieren, fällt Julia schwer, zu stark sind sie, die Krankheit hat ihr die nötige Reflexion geraubt. Julia möchte niemanden vor den Kopf stossen, sie kann einfach nicht anders. Sie muss einfach tun, was ihr gerade durch den Kopf geht. Wenn sie andere Menschen sieht, ist es wie ein Reflex, wie ein Magnet, sie möchte zu ihnen hin, sie möchte sie begrüssen und von ihnen wahrgenommen werden. Sag Julia «Hallo», wenn du sie siehst, sie freut sich sehr darüber. Kennst du auch ihre Eltern, gib Julia die Hand und schau sie an, sprich mit ihr, sie wird es dir tausendmal danken. Wendest du dich jedoch von ihr ab, wird sie sehr traurig und in ihrer Verzweiflung sucht sie dich mit ihren Händen, mal kraftvoll mal weniger.
Julias Bewegungen werden jedoch immer unbeholfener. Sie stolpert oft, hat blaue Flecken an den Schienbeinen, manchmal verlässt sie ihre schier unendliche Kraft und Energie. Kürzlich hat sie Orthesen erhalten, für beide Füsse, welche mehr und mehr nach innen schauen. Julias Hirn befiehlt dies so und sie kann sich nicht dagegen wehren. Nur im Wasser kann sie sich noch völlig frei bewegen, ohne Angst zu stürzen oder sich irgendwo anzustossen. Mit ihren Flügeli ist sie am liebsten im grossen Becken, wo es schier grenzenlos Wasser um sie herumhat.
Julia liebt essen, am liebsten im Restaurant oder mit Besuch. Bereits mit einem Jahr ass sie mit Vorliebe Costini, aber bitte mit Knochen, und konnte den Löffel zum Essen benutzen, ohne grosse Kleckerei. Julia isst fast alles, am liebsten Fisch und Fleisch und grünen Salat und natürlich Papas hausgemachte Pizza und Pommes mit gaaaanz viel Mayonnaise. Mit drei Jahren ass sie mit Gabel und Messer, wie wir kaum ein Kind zuvor gesehen hatten. Heute isst sie am liebsten mit den Händen. Dass Julia Gabel und Messer gleichzeitig benutzt, ist schon lange eine Erinnerung geworden und auch einzeln erschliesst sich ihr der Sinn des Bestecks nur noch selten. Noch kann sie meist selber oder mit unserer Hilfe essen und dieses auch schlucken. Immer häufiger verschluckt sie sich jedoch, die Koordination von Schlucken und Atmen bereitet ihr zusehends Mühe. Wie lange kann sie noch selber essen? Wir hoffen, dass die Forschung schneller ist und wir Julia nie eine Magensonde legen müssen.
Julia ist Freude, ist Sonnenschein, ist ganz viel ungetrübte Ausgelassenheit. Sie möchte die ganze Welt umarmen. Traurig wird sie nur, wenn sie nicht verstanden wird.
Aber geht es nicht uns allen so?
Stell dir vor wie schwierig es ist, verstanden zu werden, wenn dir die Worte fehlen.
Wir danken jedem von euch, der versucht, sich in Julia hineinzufühlen und ihr das gibt, was sie so unendlich viel braucht.
LIEBE.